Nichtwählerin, Nichtwähler, gestatte, dass ich Dich duze. Nicht, weil wir eng befreundet wären und auch nicht, weil jetzt eine Moralpredigt von Vater zu Tochter oder Sohn folgt. Sondern weil Du mir nahe stehst. Nahe und doch so fern.

Nahe stehst Du mir, weil ich mit Dir einig bin: Es kommt nicht darauf an, ob ich wählen gehe oder nicht. In meinen 40 Jahren als Stimmbürger habe ich noch nie erlebt, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Wenn ich stimmen ging, hatte ich keinen Einfluss auf das Ergebnis. Wenn ich einen Urnengang verpasste, krähte kein Hahn danach. Selbst beim knappsten Resultat, das ich je in Basel erlebte, gaben mehr als 50 Stimmen Unterschied den Ausschlag.
Fern stehst Du mir, weil ich mein Stimm- und Wahlrecht fast immer ausübe. Meistens fülle ich die Zettel am gleichen Tag aus, an dem sie kommen. Und dann ab die Post, ohne Stress zum nächsten Briefkasten. Heute ist der letzte Tag, an dem dies noch möglich ist für die Parlamentswahl 2012.
Es ist mir selbst unerklärlich, weshalb ich das tue, immer wieder. Mein Verhalten ist komplett irrational. Es ändert ja nichts. Es sieht’s ja keiner. Ich kann mich sogar als Wähler ausgeben, ohne einer zu sein. Was treibt mich denn dazu, mein Aktivbürgertum nicht nur zu behaupten, sondern tatsächlich auch zu leben? Und viele andere auch?
Wenn man’s richtig bedenkt, ist es verwunderlich, dass rund die Hälfte des Stimmvolks an der Wahl teilnimmt. Verständlich ist hingegen, dass so viele wahlabstinent sind. Die Wahlverweigerer sind keinesfalls dümmer oder fauler, vielleicht sogar schlauer. Sie verlassen sich auf die andere Hälfte der Berechtigten: Ginge diese auch nicht hin, wäre keine Wahl mehr möglich. Dann lebten wir in einer Diktatur.
Wählen zu gehen, ist also ein Akt der Solidarität. Nicht mit dem Staat und auch nicht mit den bedauernswerten Kandidierenden, sondern mit allen, die nicht wählen gehen. Ich tue es für Dich, liebe Nichtwählerin, lieber Nichtwähler! Und erwarte auch Deinen Dank. Aber bleibe ruhig zuhause, so hat meine Stimme mehr Gewicht. Ich treffe die Wahl zwischen neoliberal und sozial, zwischen national und multikulturell, zwischen reaktionär, konservativ und aufgeklärt, zwischen konstruktiv und destruktiv, melonen- und gurkengrün. Ich gebe die Richtung vor!
Ich? Es kommt doch nicht darauf an. Meine Stimme gibt nie den Ausschlag. Es ist mein Mitgefühl, das mich an die Urne treibt. Niemand soll in einer Diktatur leben müssen, auch Nichtwählende nicht. Bleibe ruhig zuhause, meine Freundin, mein Freund, sonst verliere ich die Motivation, das Stimmcouvert einzuwerfen. Wehe, Du wählst jetzt noch! Dann hätte ich es eben so gut lassen können.
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