wiener.swiss

Kulturwandel für Nachhaltigkeit

Monat: Januar 2025

  • Zwischen Soziologie und Mystik

    Hartmut Rosa, der umtriebige Thüringer Soziologe, der uns in grosser Unruhe Gelassenheit und Entschleunigung predigt, füllte am 27. Januar den grossen Saal des Berner Stadtcasions bis auf den letzten Platz. Weit über 1200 Menschen suchten Halt in seinen Theorien zu unseren turbulenten Zeiten. Viele hatten wohl seine Bücher über die Beschleunigung und Resonanz gelesen; Beschleunigung als Kennzeichen unserer Zeit und Resonanz als ein Bestreben, mit Raum und Zeit sowohl im Alltag als auch übergeordnet, in der Geschichte und in der persönlichen Biographie im Einklang zu leben und zu wirken.

    Rosas Vater war Bäcker und fand diese Harmonie, indem er seine Brote schuf, mit Fingerspoitzengefühl und Augenmass. Und er glaubte an eine bessere Zukunft für seine Kinder. Das war damals, in den Nachkriegsjahren noch einfach. Heute befürchten die meisten Menschen, so Rosa, dass es ihre Kinder schlechter haben werden, auch jene, die in materiellem Überfluss leben.

    Das offizielle Thema der Veranstaltung in der Reihe Zeitgedanken der Berner Burgergemeinde und der Universität Bern lautete: «Bedrohliche Zukunft, dunkle Vergangenheit? – Zeitkrise Europas.» Wie der Talk zu diesem etwas obskuren Titel passte, erschloss sich nicht ganz. Höchstens indem nicht selten esoterische Aspekte aufblitzten in Hartmut Rosas Gedanken. Zum Beispiel als er schilderte, wie ihn im Anblick der Bergkulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau das Gefühl übermanne, dass ihn die Gipfel umarmen möchten. Um sich gleich darauf zu rechtfertigen und mehrfach zu betonen, er sei Soziologe und nicht Mystiker.

    Insgesamt war die Darbietung sehr ichbezogen, aber das Publikum nahm ihm dieses Gurugehabe gerne ab, war vielleicht teilweise aus aus Verehrung zugegen. Und es gab auch ein paar Glanzlichter, für die sich der Abend durchaus lohnte. Etwa die Hypothese, dass die Menschen des Fortschrittsglaubens bedürfen, um nicht in Depression zu verfallen. Weil sie im Moment, da sie alles haben, eher von Verlustängsten dominiert sind als von der Fähigkeit, das Leben und ihre Privilegien zu geniessen. Und diese Verlustängste dann wiederum satte Zeitgenoss*innen in Wutbürger*innen verwandelt.

    PS: Andreas Schaerer, der virtuose Berner Jazzsänger und Komponist beglückte das Publikum im Stadtcasino mit einem a capella Solo am Mikrophon als Rosas «Vorband» und «Abspann». Jederzeit hörenswert!

    Hörprobe: https://www.youtube.com/watch?v=KmafyNRl0Ys

  • Bruno Stefanini reloaded

    Die Solothurner Filmtage eröffneten ihren Festivalreigen 2025 mit Thomas Haemmerlis neustem Werk «Die Hinterlassenschaft des Bruno Stefanini». Vorab dies: Während seiner gut 90 Minuten lässt der Film niemals Langeweile aufkommen.

    Das Leben des Winterthurer Milliardärs, Sammlers und Jägers (von Häusern, Frauen, Devotionalien und Kunst) strotzte derart vor Wendungen, Überraschungen, Irrläufen, Höhe- und Tiefpunkten, dass es ohne weitere Zutat unterhält. Es wäre beinahe unmöglich, aus diesem Stoff eine Story zum Gähnen zu zimmern. Wohl auch aus diesem Grund erlag Thomas Haemmerli wohl der Versuchung, die Geschichte wie eine Tobildschau über einen Schulausflug zu erzählen. Von Anfang (Geburt 1927) zum Ende (Tod 2018), in strikt chronologischer Reihenfolge.

    Schade, es hätte ganz andere Ansätze gegeben, die das Geschehen bedeutend erhellender auf die Leinwand hätten bannen können. Indem zum Beispiel ein Aspekt des bunten und tragischen Stefanini-Lebens in aller Tiefe und Gründlichkeit ins Zentrum gerückt worden wäre. Letztlich bleibt uns Stefanini aber fremd, weil wir auch am Ende nicht verstehen, was ihn zum Beispiel dazu bewog, einerseits hypergeizig jeden Rappen zu spalten und anderseits Tausenden von Mieterinnen und Mietern in seinen Häusern einen Gefallen zu tun, indem er zwar nie renovierte, aber auch nie die Mieten erhöhte. Die verfallenden «Stefanini-Häuser» sind dadurch in Winterthur zum stehenden Bergriff geworden für jede verlotterte Liegenschaft.

    Solche Rätsel bietet das Leben des Sohns einer Glarnerin und eines italienschen Migranten zu Hauf. Beiläufig erfahren wir, dass er einer Freundin zwei Abtreibungen bezahlt hat. Nur kurz hält der Film inne, als er den Selbstmord von Stefaninis ältestem Sohn rapportiert. Solche Dramen reihen sich auf der gleichen Ebene ein wie der gemeinsame Kauf eines Ankerstichs mit Christoph Blocher. Alles bleibt Anerdote, bis hin zu den letzten offenbar gebrechlichen und leidvollen Jahre des Protagonisten.

    Ich hoffe, dass jemand diesen Stoff entdeckt und wirklich Licht ins Dunkel einer Persönlichkeit bringt, die viel mehr als nur den jeweiligen Zeitgeist verkörpert. Die Unterstützung der Stefanini-Stiftung «für Kunst, Kultur und Geschichte», deren Direktorin Bettina Stefanini (einer Tochter von Bruno Stefanini) an der Première in Solothurn einen hoch reflektierten Auftritt hatte, sollte dem nächsten Projekt gewiss sein.